Der diesjährige Seppl-Lauf am 31. Dezember 2016 ist Kerstin Lechner gewidmet, die nach einem Schlaganfall eine Gehirnblutung erlitt
von Kerstin Lechner
HOCHBURG-ACH. Mein Name ist Kerstin Lechner, ich bin 34 Jahre alt. Eine meiner Freundinnen erzählt hier nun meine Geschichte, da ich es leider noch nicht selbst kann.
Gerade mal ein Jahr im neuen Haus, frisch verlobt und glücklich über beide Ohren, sollte unser gemeinsames Leben nun beginnen. Bis der 3. Februar 2016 meine ganze Welt zum Einstürzen brachte.
Am Abend des 3. Februar wurde ich mit Eiltempo ins Krankenhaus gebracht, da ich von einer Minute auf die andere massive Sprachstörungen hatte. Glücklicherweise alarmierte mein Verlobter sofort die Rettung. Ansonsten wäre ich heute nicht mehr am Leben.
Mein Sprachzentrum wurde dabei stark betroffen. Die ersten Tage war nicht sicher, ob ich es überhaupt überleben würde, da die Ärzte den Schlaganfall und die Gehirnblutung zeitgleich behandeln mussten. Einerseits mussten sie den Thrombus auflösen und andererseits die Gehirnblutung stoppen. Die Möglichkeit einer Not-OP war nicht gegeben, da die Stelle inoperabel war. Mein Leben hing quasi „am seidenen Faden“.
Ich habe überlebt
Nach fünf Tagen gab es endlich Entwarnung. Ich war „über den Berg“. Jedoch konnte keiner sagen, ob überhaupt oder in wie weit sich mein Gehirn wieder regenerieren würde.
In den ersten Tagen war mein Gehirn mit allem was ich sah oder hörte einfach nur „überfordert“ und reagierte nur sehr langsam.
Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, dies wäre mein größtes Problem. Deshalb dachte ich anfangs, ich würde mich einfach nur etwas schwertun, die Wörter beim Sprechen rauszubringen.
Aber desto „klarer“ es in meinem Kopf wurde, wurde mir Tag um Tag bewusster, welche Defizite ich plötzlich hatte. Denn meine Logik und die Erinnerungen waren komplett intakt. Ich wusste also ganz genau, was ich vor dem Schlaganfall alles konnte.
Ich hatte meine eigene
Muttersprache verloren
Genau deshalb war mir sehr schnell klar: Ich hatte meine eigene Muttersprache „verloren“. Denn das „Bla Bla“, das aus meinem Mund rauskam, konnte keiner verstehen. Die Wörter existierten nicht. Und in meinem Kopf waren die reellen Wörter nicht mehr vorhanden!
Umgekehrt war es auch nicht viel anders. Wenn mein Gehirn mal ein oder zwei Wörter eines ganzen Satzes bewusst wahrnehmen konnte, wusste ich zwar ganz genau, dass diese Wörter zu meiner Muttersprache gehörten, aber ich keinerlei Ahnung hatte, was sie bedeuteten. Da war einfach nichts mehr drin in meinem Kopf! Nun wusste ich, wie sich „gähnende Leere“ anfühlt!
So richtig bewusst wurde mir die Sache erst, als der Pfleger beim Frühstück meinte: „Kaffee oder Tee?“ Ich hatte die beiden Wörter einerseits bewusst wahrgenommen und war mir auch zu 100 Prozent sicher, dass ich die Wörter früher jeden Tag x-mal hörte und auch selbst verwendete, aber gleichzeitig hatte ich einfach keine Ahnung mehr, was sie bedeuten. Und nicht einmal, obwohl mein Frühstück direkt vor mir stand, meine Tasse noch leer war und der Pfleger mit zwei Thermoskannen vor mir stand.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sobald ich einen Punkt einigermaßen „verkraftet“ hatte, bereits das nächste Stück meines Kartenhauses einstürzte. Denn ziemlich schnell musste ich realisieren, dass sich nicht nur das Sprechen und Zuhören verabschiedet hatte.
Eingesperrt im
eigenen Körper
Das Lesen und Schreiben war natürlich genauso betroffen. Wie sollte ich nun mit den Mitmenschen kommunizieren? Ich fühlte mich wie „im eigenen Körper eingesperrt“! Das Schlimme waren die damit verbundenen Ängste, die immer größer wurden, umso klarer ich alles mitbekam. Ich konnte mich immer mehr erinnern, welche Pläne wir hatten. Wir wollten doch heiraten und eine Familie gründen. Was sollte daraus werden, wenn ich nicht mehr gesundwerden sollte? Man kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. Der Scherbenhaufen, der vor mir lag, wurde täglich immer größer.
Richtige Abfolgen
wieder erlernen
Und als hätte all das nicht schon ausgereicht, kam noch auf, dass auch meine Fähigkeit, Tätigkeiten in einer logischen Reihenfolge nacheinander zu erledigen, stark beeinträchtigt war. Ich musste mich extrem konzentrieren, wenn ich mir nur einen Kaffee aus der Stations-Küche holen wollte. Da mich die Eindrücke auf dem Weg bis zur Küche so aus dem Konzept brachten, wusste ich, wenn ich in der Küche ankam, oft gar nicht mehr, was ich dort eigentlich wollte. Und wenn ich meine Konzentration dann wiederhatte und wusste was ich machen wollte, brauchte es trotzdem oft einige Zeit, bis ich endlich meinen Kaffee mit ins Zimmer nehmen konnte. Die automatische Reihenfolge, zuerst eine Tasse aus dem Regal zu nehmen, diese dann unter den Ausguss der Maschine zu stellen und dann erst den Startknopf der Maschine zu drücken, war für mich mit unglaublicher Konzentration verbunden. Für einen jeden anderen eine Selbstverständlichkeit.
Man kann sich vorstellen, warum mein Körper ständig ausgepowert war. Denn all die Konzentration, die ich für die noch so kleinsten Kleinigkeiten brauchte, raubte meinem Körper unglaublich viel an Energie.
Wie wird das restliche
Leben aussehen?
Angst vor der Zukunft war mein ständiger Begleiter. Nicht, dass ich sterben könnte, wenn ich so etwas nochmals bekäme. Nein, ich hatte viel größere Angst, mein restliches Leben in meinem Körper „eingesperrt“ zu sein, ohne eine Möglichkeit, meine Bedürfnisse oder Gefühle mitzuteilen, gleichzeitig aber alles voll mitzubekommen. Ich war doch erst 34 Jahre und außer den Folgeschäden meines Schlaganfalls ansonsten gesund. Eine wahrlich „lange“ Hölle, die ich womöglich durchleiden musste!
Mit dieser Erkenntnis hatte ich ziemlich schnell den Punkt erreicht, den Herrgott vor dem Schlafengehen zu bitten, doch Erbarmen für mich zu haben und mich einfach zu erlösen, wenn er nicht vorhätte, meinen Zustand irgendwann wieder zu verbessern.
Die Hoffnung
stirbt zuletzt
Ich war noch nie ein Mensch, der jeden Sonntag in die Kirche ging. Mir war es immer wichtiger, meinen Mitmenschen im Alltag zu helfen. Das war einfach meine Art von „gläubig zu sein“. Und mir war immer schon klar, dass wir Menschen nicht unser Leben komplett in der Hand haben, sondern dass über uns allen eine größere Macht steht, die eigentlich die Fäden in unserem Leben zieht. Und jetzt war der Zeitpunkt gekommen, meine Zukunft in diese Hand zu legen und einfach nur zu hoffen.
Im Nachhinein gesehen war diese Entscheidung unglaublich wichtig für meine zukünftige Lebenseinstellung und auch meine Genesung. Als ich in der nächsten Zeit nämlich erste minimale Erfolge der Therapien wahrnahm, wurde mir etwas Grundlegendes klar: Wenn der Herrgott mich nicht durch den Schlaganfall sterben ließ und mir jetzt sogar noch zeigte, dass meine Genesung begann, dann hatte dies alles hier einen bestimmten Grund und ich sollte vermutlich dadurch einfach etwas für mein Leben lernen. Und dass ich die Chance, womöglich wieder gesund zu werden, unbedingt nutzen musste! Egal wieviel Energie ich dazu bräuchte, egal wie lange es dauerte und egal wie viel Schmerz ich dabei noch ertragen musste, es war mir es wert!
Erfolge und Rückschläge
wechselten sich stetig ab
Ich hatte endlich meine Stärke zurück und meine unglaubliche Willenskraft. Ich kämpfte mich wie eine Löwin durch meine Therapien und die immer wieder auftretenden verschiedensten Ängste – und von diesen gab es unzählige. Mein Weg war ein Auf und Ab. Erfolge und Rückschläge wechselten sich stetig ab. Oft hatte ich das Gefühl, ich hätte doch nicht mehr ausreichend Kraft, um diese unbeschreiblich kräftezehrende und langwierige Zeit durchzustehen und würde daran zerbrechen. Noch dazu habe ich auch heute noch keine Ahnung, ob ich jemals wieder vollkommen gesund werde bzw. wie lange dies dauern wird. Weder Ärzte noch Therapeuten können einem so etwas beantworten. Nur die Zeit kann einem die Antwort zeigen.
Wenn mir jemand als Außenstehender zwar jetzt – fast ein Jahr nach dem Schlaganfall – beim Sprechen kaum mehr etwas ankennt, kommt es daher, dass es mir so wichtig ist, am Leben so gut wie möglich teilzunehmen und ich dafür meine ganze Konzentration und Energie zum Sprechen mit meinen Mitmenschen aufwende. Dass mich nach wie vor das Sprechen und Zuhören unglaublich viel Kraft kostet, zeigt sich jeden Tag, wenn ich mich danach zu Hause wieder hinlegen muss, da mein Kopf und mein ganzer Körper von diesem „Kraftaufwand“ seine Pause braucht.
Man kann sich jetzt sicher gut vorstellen, dass ich nach wie vor noch eine Unmenge an Defiziten habe.
Der Kampf mit den
täglichen Dingen
Meinen alltäglichen Haushalt kann ich wirklich gut ohne Hilfe bestreiten und ich bin sehr froh darüber. Schwieriger wird es dann bei Tätigkeiten, die ein gewisses Maß an Planung und Organisation bedürfen. Eine Einkaufsliste für die nächsten Tage zu erstellen oder das Kochen einer einfachen Hauptspeise mit mehreren Beilagen, die alle zur gleichen Zeit fertig sein sollen. Lauter Sachen, die für andere „selbstverständlich“ sind, brauchen bei mir eine unvorstellbare Konzentration und Energie. Oft ist es schon passiert, dass ich nach dem Kochen gar nichts mehr essen konnte, weil ich so „fertig“ war vom „Denkprozess“ beim Kochen selbst.
Wenn das Gehirn nicht
mehr folgen kann
Ähnlich fertig bin ich, wenn mir jemand etwas erklären möchte. Bei alltäglichem „Plaudern“ über „Gott und die Welt“ zuzuhören, ist nicht ganz so schwierig, weil man sich dabei oftmals „ausklinken“ kann, wenn der Kopf nicht mehr mitkommt. Bei genaueren Erklärungen jedoch bringt mein Gehirn es oft nicht mal auf die Reihe, sich das Erklärte überhaupt vorstellen zu können. Geschweige denn noch folgen zu können. Wenn das Ganze dann noch am Telefon passiert, habe ich gar keine Chance mehr etwas zu verstehen, da ich mich zusätzlich noch darauf konzentrieren muss, mich nicht von äußeren Einflüssen aus dem Konzept bringen zu lassen, da ich den Sprecher nicht mal sehe.
Wieviel Konzentration und Energie dann mein Kopf fürs Lesen und Schreiben benötigt, glaube ich brauche ich nicht detailliert erklären. Ich kann glücklicherweise mittlerweile wieder lesen und schreiben an sich. Einzelne Sätze sind okay. Aber kleine Absätze mit mehreren zusammenhängenden Sätzen werden schon schwierig.
Vom gestandenen
Erwachsenen wieder zum Kind
Ob und wann ich wieder mal arbeiten kann bzw. ob es jemals wieder fürs Büro reicht, steht in den Sternen. Darüber nachdenken, dass ich mal mit einem Einser-Durchschnitt meine Matura absolviert hatte und nun womöglich nie mehr über den Stand eines Kindes
rauskomme, darf ich nicht!
Aber eines ist mir klar: Solange allein schon mein Alltag meine komplette vorhandene Konzentration und Energie verschlingt, bin ich davon überzeugt, es ist zu früh, sich darüber Gedanken zu machen. Auch wenn ich mir ab und zu vorkomme, als wäre ich ein Sozialfall, weil ich noch so jung bin und seit dem Schlaganfall nicht mehr arbeiten konnte. Wie ich auf solche „wahnwitzigen Überlegungen“ komme? Ganz einfach. Es gab bereits ziemlich bald Menschen in meinem Leben, die grinsend meinten: „Na, dann musst du halt jetzt etwas arbeiten, das ’unter deiner Würde’ ist. Denn nur, weil dein Kopf nicht so richtig funktioniert, heißt das nicht, dass du nicht gleich mal wieder arbeiten kannst. Du hast ja schließlich gesunde Hände und Füße.“ Man kann sich nicht vorstellen, wie einen so etwas trifft. Als wäre meine Situation nicht schon schlimm genug gewesen. Aber mit der Zeit habe ich daraus etwas ganz Wichtiges, das mir niemand mehr nehmen kann, gelernt. Solche Menschen tauchen immer wieder in unserem Leben auf. Sie haben einfach kein Hirn, reden nur, damit das Mundwerk etwas zu tun hat und es kratzt sie nicht, wie es dem anderen dabei geht. Aber von solchen stumpfsinnigen Leuten werde ich mir nie wieder etwas einreden lassen! Aber wie sagt man so schön: „Was einen nicht umbringt, macht einen nur härter!“ Und das Wichtigste ist meine Genesung! Und darin lege ich weiterhin meine ganze Energie.
„Auftanken“ mit
sportlichen Aktivitäten
Aber nun weg von den negativen Gedanken. Ich hätte niemals gedacht, dass ich jemals an den Punkt kommen würde, mit Freude täglich Sport zu treiben. Aber ich habe dank meiner Therapeuten schnell gelernt, wie viel meinem Kopf täglicher Sport – kombiniert mit ausreichenden Ruhepausen – bei meiner Regenerierung bringt. Mein Kopf braucht einfach im Alltag so viel mehr Konzentration und dadurch Energie als bei gesunden Menschen. Und bei Sport und Ruhepausen kann er wieder „abschalten und auftanken“.
Viel Positives für
mein Leben gelernt
Heute kann ich sagen: „Ich habe aus dem Ganzen so viel Positives für mein Leben gelernt, was ich ohne den Schlaganfall womöglich niemals getan hätte.“
- Die Erkenntnis, dass der eiserne Wille etwas zu verändern viel bewirken kann. Wie sagt man so schön: „Der Wille kann Berge versetzen“.
- Mein Urvertrauen, das mir zeigt, dass sich oftmals viele unlösbare Situationen nach einiger Zeit von selbst lösen oder einem andere Sichtweisen aufzeigen. Beziehungsweise daran glauben zu können, dass mein Leben gelenkt wird und vieles, das auf den ersten Blick unvorstellbar grausam erscheint, einen tieferen Grund hat, den man oft erst viel später erkennen kann.
- Das Bewusstsein für die kleinen schönen Dinge im Leben, die das Leben erst lebenswert machen. Wie sich einfach nur mit den Liebsten zusammenzusetzen und einfach zu genießen sich gegenseitig zu haben oder ein Buch in die Hand zu nehmen und zu genießen, zumindest wieder ein klein wenig darin lesen zu können. Denn alles was wir für „selbstverständlich“ ansehen, könnte plötzlich ganz anders sein...!
- Die Erkenntnis, dass unzählige Menschen ein viel schlimmeres Schicksal erlitten haben als man selbst. Und sich klar zu machen, was man trotz aller Einschränkungen doch noch machen kann.
Unglaublicher Rückhalt
durch meine Familie
Natürlich habe ich immer wieder Angst vor der Zukunft und das kann ich auch nicht einfach mit einem Fingerschnips wegbringen. Aber meine neue Lebenseinstellung ermöglicht mir, immer mehr mit dem eigenen Schicksal umzugehen und vor allem trotzdem ein zufriedenes und glückliches Leben führen zu können!
Aber eines ist ganz sicher: Ohne den unermüdlichen Beistand meines Mannes und meiner Familie wäre ich vermutlich an meiner Erkrankung zerbrochen! Sie waren immer für mich da und gaben mir so viel Kraft, das alles durchzustehen! Das schönste Geschenk bekam ich allerdings von meinem Mann, als er von der ersten Minute nach dem Schlaganfall hinter meiner Entscheidung stand, die Hochzeit nicht zu verschieben. Er glaubte fest an mich und wusste, ich hätte die nötige Kraft und den Willen, meine Ziele zu erreichen.
Ärzte und Therapeuten sind sich nach wie vor einig, dass mir die bevorstehende Hochzeit unglaublich bei meiner Genesung geholfen hatte. Denn ich hatte dadurch ein genaues Ziel, das ich bis zu einem fixen Datum erreichen musste. Und dazu noch einen eisernen Willen, es zu schaffen. Ohne all das wäre ich niemals in dieser kurzen Zeit so weit gekommen.