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Montag, 15. Mai 2017

Volksseelen im Kontext der Geschichte verstehen

Im Gespräch mit dem Kosovo-Spezialisten Dr.  Marcel Stegherr über die Situation im Balkan 

von Uli Kaiser


MÜHLDORF. Der Mühldorfer Dr. Marc Stegherr berät seit mehr als zehn Jahren Bundeswehr und Politik, wenn es um die Konstellationen in Südosteuropa geht. Der gebürtige Schwabhauser (Landkreis Dachau) studierte Slawistik, Politik und Geschichte Osteuropas. Er lehrte an der Bundeswehrakademie in Hamburg und wirkte am George-C.-Marshall Center in Garmisch-Partenkirchen, am „European Center for Security Studies“. Die Angebote des Centers konzentrieren sich auf NATO-Mitglieder und potenzielle Aufnahmekandidaten, aber auch russische, kasachische und ukrainische Vertreter sind dort zu Gast. Im Interview gibt Dr. Marc Stegherr einen Einblick in seine Arbeit und in die aktuelle politische Lage Serbiens.

ISK: Herr Dr. Stegherr, Sie haben unter anderem den KFOR-Kommandeur im Kosovo direkt vor Ort beraten. Was haben Sie dort konkret getan?

Dr. Marc Stegherr: Ich habe vor allem den Kommandeur über die Lage vor Ort informiert. Welche Personen sind wichtig, wie geht man mit Würdenträgern korrekt um. Einem hochrangigen religiösen Vertreter kann ich nicht einfach die Hand geben. Das mache ich beim Papst auch nicht. Ebenso sind Pauschalurteile unangebracht. Eine einfache Einteilung in Gut und Böse sollte es nicht geben. Es gibt wichtige Dinge, die man vor den Gesprächen klären sollte, um Probleme zu vermeiden.

ISK: Wie sind Sie dazu gekommen, die Bundeswehr im Kosovo zu beraten?

Dr. Marc Stegherr: Grundsätzlich hatte ich nicht das Ziel, in eine solche Rolle zu schlüpfen. Ich leistete meinen normalen Wehrdienst und begann dann meine Reserveoffizierslaufbahn. Als die Bundeswehr in die komplizierte Lage auf dem Balkan eingebunden wurde, suchten sie geeignete Leute.

ISK: Was macht die Lage zwischen Serbien und dem mittlerweile unabhängigen Kosovo so kompliziert?

Dr. Marc Stegherr:  Hier hilft ein Blick in die Geschichte. Nur in diesem Kontext kann man die serbische Einstellung verstehen lernen. Das Kosovo gilt für die Serben als „Wiege“ ihrer Kultur und Staatlichkeit. Regelrecht mythische Bedeutung hat vor allem die Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1389 erlangt. Die serbische Legende besagt, dass sich die Serben im Kampf gegen die Osmanen für Europa geopfert hätten. Dass sie ihre Niederlage annahmen, wäre gleichbedeutend mit dem Verzicht auf irdische Herrschaft und der Entscheidung für das Himmelreich. Die Serben betrachten sich damit als „himmlisches Volk“. Die-
se Geschichte ist auch heute noch Teil der serbischen Staatsideologie. Die Anerkennung des Kosovo als eigener Staat war für die Serben gleichbedeutend mit dem Verlust ihres Ursprungs. Sie sagen, sie seien von Europa wieder einmal zugunsten des Islams geopfert worden.

ISK: Was hätte aus Ihrer Sicht anders laufen müssen?

Dr. Marc Stegherr: Das Kosovo hätte als autonomer Teil bei Serbien bleiben sollen. Somit hätte man die Muslime, die in diesem Teil sehr europäisiert waren, auch gleich mit Serbien in die EU integrieren können. Die Gläubigen lebten zu großen Teilen die Religion auch nicht anders, als wir es tun. Allerdings verfolgten die Verhandlungsführer der Länder, die in diesen Konflikt eingebunden waren, stets ihre eigenen Interessen. An dieser Stelle spielten historische Gründe eine entscheidende Rolle. Geschichte wirkt oft wie ein Trauma für ein ganzes Volk. Solche tiefen emotionalen Probleme gilt es zu beachten.

ISK: Welche sind dies im Detail?

Dr. Marc Stegherr: Die Österreicher haben mit den Serben seit dem Attentat von Sarajewo ihre Probleme. 1914 wurde der Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, in Sarajewo ermordet, was als Auslöser für den Ersten Weltkrieg diente. Die Gegner der Mittelmächte Deutschland und Österreich, vor allem Frankreich und England, schlugen sich auf die Seite Serbiens. Sie bildeten damals den Gegenpol zu Öster-
reich und Preußen, die Serbien unterdrückten. Mit einem unabhängigen Kosovo hätten sich diejenigen europäischen Staaten durchgesetzt, so die serbische Ansicht, die schon damals gegen Serbien waren und heute zu dessen Nachteil einen eigenständigen muslimischen Staat favorisieren. 

ISK: Wenn Länder wenig wirtschaftliche Zukunft haben, sind die Menschen leichter anfällig für extremistische Denkweisen, weil sie Probleme mit ihrem Selbstwert haben. Wie stark ist der Einfluss der radikalen islamischen Ideologie direkt vor unserer Haustür?

Dr. Marc Stegherr: Ich habe mich mit gemäßigten Imamen unterhalten. Ihnen gelang es lange, den Einfluss der Radikalen in Grenzen zu halten. Unmittelbar vor der Unabhängigkeit von 2008 wehrten sich alle noch gegen die Import-Imame. Doch mittlerweile ist der Einfluss etwa der Wahhabiten deutlich stärker geworden. Diese radikale Glaubensrichtung hat ihren Ursprung im 18. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien. Damals ging der Stamm der Al Sauds mit dem Erweckungsprediger al-Wahhab eine folgenschwere Liaison ein, die bis heute in ihrem Ursprung Bestand hat. Ihre Ideologie findet sich beispielweise beim IS oder bei den Salafisten wieder. Diese Strömung konnte auf dem Balkan stark werden, weil es schwerwiegende soziale Probleme gab. Die liberalen, säkularen kosovo-albanischen Intellektuellen wehren sich gegen diese Auswüchse. Doch mittlerweile ist man vorsichtig geworden, weil auch schon Morddrohungen vorkamen und der Islamische Staat ganz besonders im Kosovo erfolgreich ist, was Rekrutierungen angeht.

ISK: Welche friedlich gestimmten Richtungen gibt es?

Dr. Marc Stegherr: Es gibt einen sehr interessanten serbisch-orthodoxen Mönch. Er lebt in Dečani, neben Peč, dem Patriarchatssitz, das wichtigste serbisch-orthodoxe Kloster im Kosovo. Er ist sehr aktiv im Internet, hat sich als „Cyber Monk“ einen Namen gemacht. Er fungierte schon als Stimme der Serben im Kosovo wie auch der albanischen Opposition, als Milošević noch an der Macht war. Sein Kloster wurde tatsächlich von den Albanern vor Übergriffen bewahrt. Gleichwohl vertritt dieser Mönch die Ansicht, dass das Kosovo auch weiterhin Teil Serbiens ist. Man müsse mit der albanischen Mehrheit aber selbstverständlich gut auskommen. 

ISK: Wie hat sich die Lage im Kosovo verändert?

Dr. Marc Stegherr: Dieses Land war einmal sehr gemäßigt. Früher lebten dort viele Ethnien friedlich zusammen. Die Serben im Kosovo, die mit fast zehn Prozent einst die größte Minderheit waren, sind heute auf drei Prozent geschrumpft.  Alles verkrampft sich wieder. Wir erleben gerade eine sehr kritische Zeit. Parallel hierzu ist Serbien zum Spielball für die EU und Russland geworden. Die EU interessierte sich nur während der Krise für diese Region. Derzeit stellen sich die orthodoxen, nationalkonservativen Kräfte gegen die liberale EU. Dadurch wird das historisch gewachsene, gute Verhältnis zwischen Serbien und Russland deutlich gestärkt. Dieses ist aus dem Panslawismus des späten 18. Jahrhunderts erwachsen. Heute ist die orthodoxe Verbindung wieder sehr machtvoll. Der serbische Klerus steht in gutem Kontakt zu den russischen Kollegen und Instituten. Die historischen Ursprünge dieser Kooperation liegen in der Zeit der osmanischen Herrschaft, als fast alle serbischen Bildungseinrichtungen geschlossen waren.

ISK: Alles in allem können wir direkt vor unserer Haustüre eine ziemlich explosive Lage konstatieren. Was ist zu tun?

Dr. Marc Stegherr: Der Nachbarschaftsdialog zwischen allen Parteien ist von entscheidender Bedeutung. Leider interessiert sich die internationale Gemeinschaft, so auch Europa, immer nur dann für diese Region, wenn es zu kriseln beginnt. Der gemäßigte, europafreundliche Alexander Vujic hat die serbischen Präsidentschaftswahlen vor kurzem zum Glück gewonnen. Er hat riesige Probleme mit den extremen bzw. nationalistischen Strömungen. Das hätte man sich eventuell ersparen können, wenn man statt der Trennung den Weg einer gemeinsamen Politik für den Kosovo und Serbien gewählt hätte. Es ist wichtig, dass Europa bzw. „der Westen“ nachhaltig in die Wirtschaftskraft dieser Region investiert, aber auch die Identität einer Region achtet, die eben zwischen West und Ost liegt. So schafft man Zukunftsperspektiven und eine sinnstiftende Identität für die Menschen vor Ort.

ISK: Vielen Dank für dieses Gespräch.